Ist Gleichstellung in der Schweiz erreicht? Von der Wunschvorstellung der Mehrheit (einer egalitären Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit) sind wir noch weit entfernt.
„Denken Sie, dass die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz erreicht ist?“ Dieser Frage ging das „Nationales Barometer zur Gleichstellung 2021“ nach. Sie befragten 2’245 Personen in der Schweiz. Fokus: Erwerbsarbeit und unbezahlte Care-Arbeit. Wir haben einige wichtig Aspekte herausgegriffen. Auf den Punkt: Die Mehrheit der Paare wünscht sich egalitäre Familienmodelle. Das für alle möglich zu machen, davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Doch es gibt Ideen, was man tun sollte.
Um was geht es? Das Wichtigste in Kürze
Die Studie wurde im Auftrag der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (SKG) durchgeführt. Die Befragung fand im April 2021 statt. Die Befragten kamen aus allen Landesteilen und waren im erwerbsfähigen Alter also zwischen 18 und 65 Jahre alt. 1’134 identifizierten sich als Männer, 1’110 als Frauen und eine Person weder als Frau noch als Mann.
Die Studie zeigt grosse Unterschiede:
- Wie Männer und Frauen die Verteilung der Arbeit und die diesbezüglich Fairness wahrnehmen: Frauen gehen deutlich häufiger davon aus, dass sie mehr Care-Arbeit übernehmen. Und sie bewerten die Fairness der Arbeitsteilung deutlich niedriger als Männer.
- Die zeitliche Entwicklung (Vergleich mit 2018): Der Stand der Gleichstellung wird 2021 deutlich kritischer eingeschätzt als in der Befragung vor drei Jahren.
- Regionale Unterschiede: In der Zentral- und Ostschweiz ist man traditioneller, in der Espace-Mittelland-Region fortschrittlicher.
- Einfluss der Pandemie: Die Pandemie scheint zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterrollen beizutragen: Frauen haben aufgrund von Familien- und Betreuungsverpflichtungen weniger Kapazität für Erwerbsarbeit. Bei Männern ist es umgekehrt.
Egalitäre Familienmodelle: Der Wunsch der Mehrheit
Traditionelle Einstellungen zu Geschlechterrollen und Familienmodellen sind auf dem Rückzug. Etwa drei Viertel der befragten stimmten der Aussage zu, Männer und Frauen sollten zu gleichen Teilen Care-Arbeit übernehmen:
Männer sind tendenziell traditioneller eingestellt als Frauen. Interessantes Detail hier: Die Zustimmung zu der Aussage, dass Frauen ihren Anteil an der Erwerbsarbeit zugunsten der Familie reduzieren sollen, ist in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen am höchsten (27%), bei den 50- bis 59-Jährigen am tiefsten (18%). Eine mögliche Interpretation dazu: Die akut „Betroffenen“ beurteilen die Situation anders als die Älteren in der Rückschau. Gerade Männer bereuen in der Rückschau häufig, ihren Platz in der Familien nicht früher gefunden zu haben. Viele wünschen sich, in der Zeit als die Kinder zu Hause waren, mehr Zeit mit ihnen verbracht zu haben.
Ein ähnlich Bild zeigt sich, wenn die Menschen nach ihrer Wunschkonstellation für Familien gefragt werden: Die meisten wünschen sich (teils auch in der Rückschau), dass beide Eltern in Teilzeit arbeiten (und so Kapazität für Familie und Haushalt haben):
Das traditionelle Alleinernährermodell, in dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau zu Hause die Kinder betreut, wird nur noch von einer Minderheit favorisiert (10% der Männer, 11% der Frauen).
Vereinbarkeit von Privatleben und Karriere
Familie. und Beruf gut unter einen Hut zu bekommen, ist nach wie vor eine Herausforderung. Auch hier zeigen sich Unterschiede der Geschlechter. Am grössten ist die Herausforderung für Alleinerziehende, insbesondere Väter:
Gleichstellung: Der grosse Gap zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Obwohl Männer wie Frauen mehrheitlich egalitäre Wertvorstellungen vertreten, spiegelt sich das im realen Leben der Menschen wenig. Sorge- und Betreuungsaufgaben werden nach wie vor mehrheitlich von Frauen übernommen. Sie sollen in der Erwerbsarbeit zurückstecken, um unbezahlte Care-Arbeit übernehmen zu können. Frauen sind dadurch in ihren Wahlmöglichkeiten stärker eingeschränkt als Männer und empfinden das zu recht als ungerecht. Männer übernehmen in der Praxis nach wie vor eher die Rolle des Ernährers. Sie leisten mehr Erwerbs- und weniger Care-Arbeit. Das zeigt sich am stärksten in der Ungleichheit der Geschlechterverteilung bei Führungspositionen:
Männer sind aufgrund ihrer Privilegien insgesamt zufriedener mit ihrer Situation und sehen weniger Bedarf für Veränderungen als Frauen. Hier scheinen die eher langfristig negativen Folgen für Männer (Beziehungsprobleme, Zugang zu den Kindern bei Trennung, weniger Wahlfreiheit, Überlastung und Selbstausbeute durch Dauerhochleistung) bei den befragten wenig präsent.
Gleichwohl wünscht sich eine Mehrheit der Befragten eine gerechte Verteilung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Care-Arbeit. Es stellt sich die Frage, wie es gelingt, dass Männer ihren Beitrag dazu leisten. Chancen sehen wir hier in der Anspreche der Väter. Hier scheinen uns Bedarf und Bereitschaft am höchsten, neue Wege zu gehen. Und hier setzen wir mit Väternetzwerken und Vatercrashkursen an.
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